Anmerkung: Das Interview mit lauren erschien erstmalig am 20. Mai 2020 in englischer Sprache auf unserem Blog (hier geht es zum Originaltext). Mit freundlicher Genehmigung von lauren übersetzte Anna-Lena Klapp das Interview für ihr Buch 'Food Revolte'. Wir danken Anna-Lena für die deutsche Übersetzung und Hannah Grieger für das Lektorat des Textes.
lauren Ornelas war bereits in jungen Jahren in der Tierrechtsbewegung aktiv und interessierte sich ebenso für die sozialen Kämpfe der Landarbeiter*innen. 2007 gründete sie das Food Empowerment Project, um das Engagement für Veganismus, den Zugang zu gesunden Lebensmitteln und die Rechte von Landarbeiter*innen miteinander zu verbinden.
In diesem Interview spricht sie über ihren Aktivismus und wie dieser sie dazu brachte das Food Empowerment Project zu gründen, über Rechte von Landarbeiter*innen, die Wichtigkeit des Zugangs zu gesundem Essen, und warum ein ganzheitlicher Veganismus diese Kämpfe für Gerechtigkeit unterstützen muss.
F: Hi lauren, kannst du uns ein bisschen über dich und deine Reise als Aktivistin erzählen? Wie hast du angefangen und wo stehst du jetzt?
In den 1970er Jahren, als ich noch zur Grundschule ging, wurde ich Vegetarierin, weil ich Tieren nicht weh tun wollte. Das war in etwa zur gleichen Zeit, als sich meine Eltern scheiden ließen. Dadurch begann ich darüber nachzudenken, dass ich nicht an der Trennung einer Familie beteiligt sein möchte. Aufgrund der finanziellen Situationen konnte ich daran nicht festhalten, aber als Teenagerin wurde ich wieder zur Vegetarierin. Ich hatte noch nie etwas von Veganismus gehört, bis ich mich mit einer lokalen Tierrechtsgruppe in Verbindung setzte. Meine Mutter schärfte mein Bewusstsein für die Kämpfe der Landarbeiter*innen und den Traubenboykott, den sie ausriefen, um ihre Rechte einzufordern. Als ich später auf die Highschool ging und von der Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika erfuhr, stellte ich sicher, dass ich keine Produkte kaufte, die von dieser Bewegung zum Boykott aufgerufen wurden. In den 1980er Jahren erfuhr ich von der Ausbeutung nichtmenschlicher Tiere. Ich wurde Veganerin und begann mich für Tierrechte einzusetzen. Meine Reise als Aktivistin ist eine Konstante. Ich lerne nie aus und finde Wege, wie ich sowohl als Einzelperson mit meinen Entscheidungen etwas bewirken kann, als auch meine Stimme mit anderen vereinen kann, um systemische Veränderungen zu bewirken.
F: Du hast 2007 das Food Empowerment Project (FEP) gegründet. Was hat dich dazu inspiriert, dieses Projekt zu starten?
Ich habe mich viele Jahre lang auf Tierrechte konzentriert und versucht, dieses Thema mit Aspekten gegen andere Ungerechtigkeiten zu verbinden. Das geschah noch zu selten oder unvollständig und ich wusste, dass ich etwas tun musste.
Im Jahr 2006 hatte ich die Gelegenheit, auf dem World Social Forum in Caracas, Venezuela, zu sprechen. Es war erfrischend, noch mehr über so viele der Themen zu erfahren, die mir am Herzen lagen. Da wusste ich, dass ich eine Organisation gründen muss, die sich auf Lebensmittelgerechtigkeit konzentriert und in der ich viele der Themen, die mir wirklich am Herzen liegen, miteinander verbinden kann: Eine Organisation, die dazu beiträgt, Veränderungen herbeizuführen und die Menschen bei ihrer Nahrungsmittelauswahl unterstützt!
F: Wie hängen die Schwerpunkte von FEP – Veganismus, Zugang zu gesunden Lebensmitteln und Rechte der Landarbeiter*innen – zusammen?
Diese drei Bereiche sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Fehlt einer dieser Bereiche, stellt das eine Form der Ungerechtigkeit dar. Ich habe investigative Recherchen in Massentierhaltungsanlagen und Schlachthöfen durchgeführt und auf einem Bauernhof gesehen, wie ein Schwein an einem großen Magengeschwür starb. Ich habe Hennen in Batteriekäfigen auf der unteren Ebene gesehen, die mit Exkrementen der Vögel in den Käfigen darüber bedeckt waren – alle mit fehlenden Federn und fehlenden Zehen. Eine Freundin und ich halfen bei der Rettung einer Pute aus einem Schlachthof, die blutüberströmt war. Ihre Zehen und ihr Schnabel waren so weit zurückgeschnitten, dass sie kaum das Gleichgewicht halten konnte und sie Probleme beim Fressen und Trinken hatte. Und ich habe noch so viel mehr gesehen.
Viele Landarbeiter*innen, die unsere Lebensmittel ernten, werden als „arbeitende Arme“ bezeichnet. Sie arbeiten, aber werden nicht ausreichend bezahlt und erhalten viele Leistungen nicht, die für die meisten Menschen selbstverständlich sind. Das reicht von einer fehlenden Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bis hin zu Pausen, die verwehrt werden. Viele können sich kaum ein Dach über dem Kopf leisten und leben in sehr beengten Verhältnissen. Sie sind den Chemikalien der Landwirtschaft ausgesetzt und werden manchmal nach der Menge bezahlt, die sie ernten. Frauen werden häufig Opfer sexueller Übergriffe am Arbeitsplatz.
People of Color und indigene Menschen, die in Gebieten leben, in denen sie keinen Zugang zu gesunder Nahrung haben (die auch als „areas of food apartheid“ bezeichnet werden), leiden im Vergleich zu weißen und wohlhabenderen Gemeinschaften häufiger unter ernährungsbedingten Erkrankungen. Rassismus und Diskriminierung schaffen diese Gebiete. Fehlende Löhne für den Lebensunterhalt, schlechte Transportmöglichkeiten und die Gier der Unternehmen tragen dazu bei, dass es diesen Gemeinschaften an guten und gesunden Nahrungsmitteln mangelt.
Was unsere Arbeit betrifft, sehen wir das so: Um das Leid nichtmenschlicher Tiere zu lindern, wollen wir die Menschen ermutigen, vegan zu leben. Indem wir die Menschen ermutigen, mehr landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Obst und Gemüse zu essen, ermutigen wir sie letztlich, sich auf ein System zu verlassen, das den Landarbeiter*innen schadet. Deshalb setzen wir uns für die Rechte der Landarbeiter*innen ein. Nicht nur, weil das, was auf den Feldern geschieht, eine Form von Ungerechtigkeit ist, gegen die sich jeder einsetzen sollte, sondern auch, weil wir das Leid aller mindern und für mehr Gerechtigkeit eintreten wollen.
Der fehlende Zugang zu gesunden Nahrungsmitteln ist ebenfalls eine Form der Ungerechtigkeit, die aufgedeckt und geändert werden muss. Wenn wir Gerechtigkeit wollen und wenn alle Menschen gesund leben sollen, dann muss der Zugang zu frischem Obst und Gemüse sowie zu tierfreier Milch gewährleistet sein. Wenn wir das Leid nichtmenschlicher Tiere lindern und mehr Menschen sich vegan ernähren sollen, müssen sie Zugang zu entsprechenden Nahrungsmitteln haben.
F: Warum sind vegane Lebensmittel nicht automatisch „cruelty free“, also frei von Grausamkeit?
Es ist absolut richtig, dass eine vegane Ernährung nicht mit dem Leid nichtmenschlicher Tiere verbunden ist. Doch selbst wenn Produkte und Waren, die wir konsumieren, vegan sind, wie zum Beispiel Schokolade, kann man sie nicht als „cruelty free“ bezeichnen, solang sie noch das Leid menschlicher Tiere – seien es nun Erwachsene, Kinder oder jemand, der versklavt wurde – beinhalten. Vegane Rezepte oder Produkte als „cruelty free“ aufzuführen, ist somit nicht korrekt. Wir sollten uns genauso um andere Ungerechtigkeiten kümmern und nicht zusätzliches Leid von Tieren – menschlich oder nichtmenschlich – verursachen. Wir sollten es besser wissen. Ich glaube, es wird dem Einsatz für nichtmenschliche Tiere nicht schaden, wenn wir andere Missstände anerkennen und genauer hinsehen.
(Anmerkung: Die F.E.P. Schokoladenliste informiert über die Abrbeitsbedingungen und Ausbeutung in der Schokoladenindustrie und gibt Überblick darüber, welche Schokoladen mit gutem Gewissen zum empfehlen sind, und welche nicht.)
F: Ein Großteil der Arbeit von FEP konzentriert sich auf den Zugang zu gesunden Lebensmitteln in schwarzen, indigenen und einkommensschwachen Gemeinden. Welche Probleme gibt es in diesem Zusammenhang und wie trägt eure Arbeit dazu bei, sie zu lösen?
Diese Form der Ungerechtigkeit ist kompliziert und hat viele sich wandelnde Elemente: Es geht unter anderem darum, wo und wie Menschen arbeiten, mit welcher Verantwortung sie sich auseinandersetzen müssen und wie wichtig ein existenzsichernder Lohn ist. Während politische Entscheidungsträger*innen und Gemeinden zusammenarbeiten, um gegen den ungleichen Zugang zu Nahrungsmitteln vorzugehen, müssen die Gemeinden am Ende die Entscheidungen treffen. Deshalb arbeiten wir mit Gemeindemitgliedern zusammen. Um die Verfügbarkeit von gesunden Nahrungsmitteln zu untersuchen, führen wir Fokusgruppendiskussionen mit lokalen Organisationen in den betroffenen Gebieten durch. Wir informieren dann die Beamten über unsere Ergebnisse und versuchen so politische Veränderungen zu fördern. Wir führen außerdem eine landesweite Kampagne gegen Albertsons und Safeway (US-amerikanische Supermarkt-Ketten) und deren Tochterunternehmen, da sie durch restriktive Maßnahmen die Eröffnung von Lebensmittelgeschäften in den Gemeinden verhindern, die keinen Zugang zu gesunden Lebensmitteln haben.
F: FEP teilt auch Rezepte für veganes Essen mit geringem Einkommen, veganes mexikanisches Essen oder veganes philippinisches Essen und stellt Informationen über die Auswirkungen der Kolonialisierung auf das Essen und die Essgewohnheiten zur Verfügung. Wie hat der Kolonialismus die Wahl der Lebensmittel beeinflusst – und beeinflusst sie immer noch?
Die Kolonialisierung Amerikas veränderte für immer die Ernährung und das Leben vieler – einschließlich der indigenen Völker in Mexiko. Auf ihren Reisen in die „Neue Welt“ brachten die Spanier*innen und Engländer*innen Nutztiere mit, darunter Kühe und Ziegen, und sie verzehrten die Milch dieser Tiere. Heute sind viele Ureinwohner*innen und People of Color besonders anfällig für Verdauungsbeschwerden, wenn sie nichtmenschliche Tiermilch zu sich nehmen. Das erklärt, warum das Trinken von Milch bei vielen Menschen mit Chicanx- und Latinx-Abstammung Magenschmerzen und andere Gesundheitsprobleme verursacht: Da es nicht natürlich ist, Milch von einer anderen Tierart zu verdauen. Wir betrachten das als „laktosenormal“ [anstelle von „laktoseintolerant“, was etwas „Unnormales“ impliziert].
F: Welchen Rat gibst du Menschen, die sich am Kampf für Ernährungsgerechtigkeit beteiligen wollen?
Wer sich für Ernährungsgerechtigkeit einsetzen will, muss lernen und zuhören und seine eigenen Annahmen beiseite legen. Ich würde empfehlen, die Themen ganzheitlich zu betrachten und die Bedürfnisse der Schwächsten ganz oben auf der Liste zu halten, und nicht die der Unternehmen oder politischen Entscheidungsträger*innen. Ich glaube außerdem, dass man Geduld haben muss, da diese Themen sehr komplex und alle miteinander verbunden sind. Man muss bereit und aufgeschlossen sein, um zu sehen, wie alles zusammenhängt.
F: Was sind die wichtigsten Lektionen, die du oder das FEP-Team seit Beginn des Projekts gelernt haben?
Wir haben gelernt, dass unsere Arbeit notwendig ist und eine Lücke füllt. Es gibt viele Veganer*innen, insbesondere People of Color, die das Gefühl hatten, dass die Vegan- und die Tierrechtsbewegung sie nicht so akzeptieren, wie sie sind und ihre Lebenserfahrungen nicht anerkennt. Wir haben außerdem gelernt, dass viele Veganer*innen Angst und Ressentiments gegenüber unserer Arbeit haben – so sehr, dass sie das Bedürfnis verspürt haben, uns anzugreifen.
Die vegane Bewegung hat noch einen langen Weg vor sich, um wirklich zu verstehen, wie verschiedene Ungerechtigkeiten miteinander verbunden sind. Diejenigen von uns, die die verschiedenen Formen von Unterdrückung und Ausbeutung erkennen, müssen zusammenkommen, um zu verändern, wie die Welt derzeit funktioniert – oder eben nicht funktioniert.
F: Kannst du einige der Personen und Projekte vorstellen, die dich inspirieren, oder deren Arbeit du als besonders wertvoll für den Bereich der Ernährungsgerechtigkeit erachtest?
Aktivist*innen aus dem Globalen Süden, die South Central Farmers und die Black Panther Party haben mich inspiriert, die Organisation zu gründen und inspirieren mich weiterhin.
F: Last but not least: Glaubst du, dass die Wahl der eigenen Lebensmittel die Welt wirklich verändern kann?
Auf jeden Fall. Auch wenn es mit dem Bemühen verbunden ist, die destruktiven Systeme zu verändern, welche die Probleme geschaffen haben.
Mehr Informationen über das Food Empowerment Project gibt es auf ihrer Website (verfügbare Sprachen: Englisch und Spanisch). Dort findet ihr auch viele weitere nützliche Informationen und interessante Artikel. Ihr findet das Projekt auch auf Facebook, Instagram, Twitter und YouTube.
Dieses Interview wurde schriftlich per E-Mail-Korrespondez durchgeführt. Wir danken lauren Ornelas dafür, dass sie sich die Zeit genommen hat, unsere Fragen zu beantworten. Besonderer Dank gilt Erika Galera für die Koordination der Kommunikation.
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